Samstag, 23. Juni 2012

ENTLASSUNGSFEIER (oder: BILDUNGSFERNE?)


Heute konnte die Kleinfamilie einen raren Moment der Eintracht erleben bei der „Entlassungsfeier“ (so wurde die Veranstaltung tatsächlich auf der Großleinwand im Saal annonciert) des Amazing aus der Erziehungsanstalt, in der in den letzten acht Jahren versucht wurde, ihn zu bilden. Die Eintracht ergab sich nicht so sehr aus dem gemeinschaftlichen Gefühl des Stolzes über den nunmehr amtlichen dokumentierten Bildungserfolg des Sohnes und Bruders (der hatte sich schon vorher eingestellt und war ausgekostet worden: Hier ), als vielmehr aus der gemeinsamen und vernichtenden Bewertung einiger der Rednerleistungen an diesem Vormittag. Insgesamt dauerte die Feier dreieinhalb Zeitstunden, die wir – wie  im Nachgespräch einträchtig festgestellt wurde -  mühelos um die Hälfte hätten kürzen können, wenn man unserer Kleinfamilie die Redebeiträge vorher zur Redaktion vorgelegt hätte.

Bei zweien der Redner wäre jedoch eine redaktionelle Überarbeitung eher nicht in Frage gekommen. Wir hätten dazu raten müssen, diese Beiträge ersatzlos zu streichen. Nicht zufällig, wie ich meine, wurden diese Beiträge von den beiden ranghöchsten anwesenden Vertretern des Bildungssystems geliefert. Dem Vertreter des staatlichen Schulamtes gelang es überzeugend darzustellen, warum an eine Abschaffung dieser Verwaltungsebene – wie sie zwischenzeitlich in Hessen einmal diskutiert wurde – nicht zu denken ist: Personen wie diesen Herrn auf minderjährige Bildungswillige loszulassen, wäre schwer fahrlässig. Es muss eine Möglichkeit geben, ohne die Staatskasse übermäßig zu belasten, solche Leistungsträger in Positionen zu hieven, wo der direkte Kontakt mit Schülerinnen und Schülern nahezu ausgeschlossen ist. Lang und breit erzählte uns dieser breite Herr davon, wie er 1972 Abitur gemacht habe, dass ihm bei Schülerinnen heute die sommerlich leichte Bekleidung in der Horizontalen und Vertikalen aufgefallen sei, warum er sich verschiedene Gedanken über die Symbolik des Kopftuches bei muslimischen Mädchen mache und dass er prinzipiell die Zeit für gekommen halte, über vernünftige Kleidung nachzudenken. Sapere aude! Dagegen traktierte uns der Direktor mit einem wahren Statistikfeuerwerk, dessen Aussagekraft aber nach seiner eigenen Aussage eher gering sei, man könne, führte er aus, in vielen Fällen – seiner Meinung nach und so wie er es sehe – nicht von signifikanten Unterschieden sprechen, dagegen erkenne er in dem Faktum, dass dieses Mal 51,y Prozent Absolventinnen und 48,x Prozent Absolventen das Abitur bestanden hätten, eine Trendumkehr, zumindest könne man fast davon sprechen, denn im Vorjahr noch sei 52,y Prozent jungen Frauen und 47,x Prozent jungen Männern von ihm an dieser Stelle zum Abitur gratuliert worden. Darüber hinaus informierte er uns weitschweifig über verwaltungstechnische Abläufe und mediale(?) Irritationen. Das bringe ich aber nicht mehr ganz zusammen. Am Ende der  Rede schaffte er es zu unser aller Überraschung, den Abiturient:inn:en zu gratulieren. Einträchtig ertrug unsere Kleinfamilie diese Reden, warf sich vielsagende Blicke und konnte bisweilen ein Kichern nicht unterdrücken, während um uns herum andächtig geschaut oder gegähnt wurde. 

Wir konnten aber auch erleben - um nicht nur zu lästern- , wie jede, auch die beiläufigste Nennung des Namens der Studienleiterin, die diesen Jahrgang begleitet hat, Beifallsstürme der Schülerinnen und Schüler auslöste, bis sich am Ende der ganze Jahrgang erhob, um ihr mit einem langen Applaus zu danken. Sie war zu Tränen gerührt, hielt keine Rede, sondern sagte bloß: „Ich werde Sie vermissen.“ Das gibt´s auch in diesem bildungsfernen „Bildungssystem“ (oder jenseits davon). Die Jahrgangsbesten hielten einen bezaubernden und witzigen Rede-Dialog und am Schluss gab es tatsächlich die Abitur-Zeugnisse für mehr als 180 junge Frauen und Männer. Los geht´s. (Zum Abi-Ball). 

2 Kommentare:

  1. Dreieinhalb Stunden, du Glückliche. Bei mir waren es die beiden letzten Male fünfeinhalb Stunden zu diesem Anlass und ich war - wegen der öffentlichen Verkehrsmittel - gezwungen nach viereinhalb Stunden, die Veranstaltung zu verlassen.
    Was wollen die den jungen Menschen damit demonstrieren? Macht wahrscheinlich. Wir haben die Macht euch die Ohren zuzuschwätzen und euch auf euren Stühlen zu halten. Über diese Stühle gãbe es auch einiges zu sagen. Der Großvater hat aus den vergangenen Malen gelernt und hat sich einen Platz am Rand gesucht, den er nach Belieben bei Bedarf verließ.

    AntwortenLöschen
  2. Das ist kein Trost, dass solch unglaubliche Veranstaltungen offenbar häufiger vorkommen. Es geht sicher genau um das, was du vermutest: Eine Demonstration der Macht - wenn wir euch jetzt noch nicht klein gekriegt haben, dann macht euch klar: Wohin ihr auch kommt, wir sind schon da!
    Wahr ist aber auch: Erschreckend, wie gut das funktioniert, denn es wäre ja ganz leicht, diese Macht zu brechen. Indem man einfach rausgeht (habe ich wie der Opa zwischendurch gemacht) oder den Redner ausbuht. Geschieht aber nicht. Man sitzt. Ich habe 84 Abi gemacht. Die Feier dauerte eine gute Stunde. Länger hätten wir das Geschwafel auch nicht geduldet. Es gab heftige Kritik an Schule, Schulleitung, hessischer Regierung und Bundesregierung und eine superpeinliche Show-Einlage mit Klampfe und so einem selbst gedichteten "Ein bisschen Frieden"-Gedödel. Dann verabschiedete man sich freundlich von den Eltern, zog in der Altstadt von Kneipe zu Kneipe und ließ es krachen. Uns hätte kein Direktor mit Statistiken voll zu labern gewagt. Da hätte er nämlich ruckzuck vor leeren Reihen gesessen, wenn er Glück gehabt hätte. Ansonsten hätte es ´ne scharfe Reaktion gegeben, Zwischenrufe und Buhs, bis er Schluss gemacht hätte. Es waren andere Zeiten. Ich vertraue trotzdem auf diese Jugend. Ihr Protest ist vielleicht subtiler. Die hören sich das an, machen sich drüber lustig und ziehen ihr Ding durch. Hoffe ich.

    AntwortenLöschen